Oliver KönigBlogKonsent-Moderation: Ein Werkzeug (nicht nur) für kollegiale Führung

Konsent-Moderation: Ein Werkzeug (nicht nur) für kollegiale Führung

In diesem kurzen Artikel möchte ich über meine Eindrücke aus einer interessanten Fortbildung zum Thema Konsent-Moderation berichten, die ich kürzlich besucht habe. Richtig: „Konsent“. Was ich früher immer wieder für einen Tippfehler gehalten habe, ist in Wirklichkeit keiner und macht einen bedeutenden Unterschied aus, wie ich bereits am Vorabend von einer Bekanntschaft erfahre, die sich zufälligerweise mit dem Thema auskennt: Beim „Konsens“ entscheiden die beteiligten Personen einhellig, sie stimmen in der zu entscheidenden Frage überein und sind im besten Fall sogar gänzlich derselben Meinung. Beim „Konsent“ hingegen müssen die beteiligten Personen nicht unbedingt derselben Meinung sein. Es geht vielmehr darum, dass alle Personen mit einem Vorschlag oder einer bestimmten Entscheidung gut leben können. Damit können ein-stimmige Entscheidungen getroffen werden, ohne dass – ein ohnehin seltener Fall – alle Beteiligten derselben Ansicht über einen bestimmten Sachverhalt sein müssen.

Meine Neugier war durch diese unverhoffte Einführung in das Thema geweckt und ich fühlte mich gewappnet für den eintägigen Workshop in Leipzig, der über Kindler-Coaching organisiert und von Birgit Mallow, einer sehr erfahrenen und im Thema (Konsent-)Moderation versierten Trainerin, durchgeführt wurde.

Soziokratie als Organisationsform

Historisch gesehen ist der Konsent das Entscheidungssystem der „Soziokratie“. Der niederländische Reformpädagoge Kees Boeke entwickelte die Soziokratie Mitte des 20. Jahrhunderts als eine Regierungs- oder Organisationsform, bei der Mitbestimmung, aber auch Verantwortung der Einzelnen gestärkt werden sollen. Entscheidungen werden nicht durch Mehrheiten bestimmt, sondern kommen dann zustande, wenn keiner der betroffenen Personen einen Einwand gegen den Vorschlag einbringt. In seiner Anwendung auf Organisationen machte der Unternehmer Gerard Endenburg die Soziokratie bekannt. In seinem Elektronik-Unternehmen führte er 1970 soziokratische Strukturen und Prinzipien ein: Der Kreis („Kring“) als Organisationsform war zu dieser Zeit ein radikaler Gegenentwurf zu den hierarchisch strukturierten Linienorganisationen. Damit einher gingen die Prinzipien von Partizipation, Selbstorganisation, Verantwortung und die Gleichwertigkeit der Stimmen in den auf Konsent-Entscheidungen basierten Kreisen. Ein zu seiner Zeit unglaublich innovativer Ansatz, der jedoch nie einem größeren Publikum bekannt wurde. Heute erfahren die Ideen der Soziokratie durch die Verbindung mit Scrum und Agilität unter dem Konzept der „Holakratie“ (Holacracy) wieder mehr Bekanntheit und Beliebtheit. Gemeinsam ist beiden, Holakratie und Soziokratie, dass Führung weniger hierarchisch, sondern mehr lateral organisiert ist. D.h. Konzepte kollegialer Führung spielen hier eine große Rolle.

„Hast Du einen schwerwiegenden Einwand?“

Zurück zum Konsent. Bei Entscheidungsfindungen in Teams werden normalerweise Fragen gestellt, wie „welche Punkte müssen für dich erfüllt sein, damit Du zufrieden bist?“ oder „was wäre deine Wunschvorstellung in der Angelegenheit?“. Die entscheidende Frage bei Konsent-Entscheidungen lautet hingegen: „Hast Du einen schwerwiegenden Einwand?“ oder anders formuliert „bist Du bereit, die Entscheidung mitzutragen?“. Anders als bei gängigen Entscheidungen, steht beim Konsent also nicht die Suche nach dem subjektiven Optimum im Mittelpunkt, sondern das Einverstanden sein jedes Einzelnen mit einem konkreten Vorschlag. Diese Umkehrung der Fragerichtung eröffnet einen größeren Denk- und Handlungsrahmen und ermöglicht prinzipiell effizientere Entscheidungsprozesse. Denn einverstanden kann man auch dann sein, wenn nicht alle persönlichen Wunschvorstellungen erfüllt werden, die Entscheidung bzw. deren Konsequenzen aber dennoch im persönlichen Wohlfühl- oder Toleranzbereich liegt. Statt mühsam alle Meinungen und Befindlichkeiten zu einem Konsens oder Kompromiss zu formen, wird die Vorgehensweise umgekehrt: Ausgangspunkt der Diskussion bildet ein konkreter Vorschlag, der sich entsprechend der Einwände so lange verändert, bis alle Beteiligten ehrlich sagen können: „Mit dieser Entscheidung kann ich leben!“

Konsent: Toleranz- und Wohlfühlbereich statt Fokus auf Optimum (Quelle: Eigene Darstellung nach Vorlage von Birgit Mallow)

Ablauf der Konsent-Moderation

Nachdem die Voraussetzungen für eine Konsent-Entscheidung geprüft wurden („Gehört das Thema in unseren Kreis? Haben wir ein gemeinsames Verständnis unserer Ziele? Sind allen die Prinzipien und Vorgehensweise der Konsent-Entscheidung bekannt?), sieht der Ablauf zumeist sehr ähnlich aus:

1. Erläuterung des Vorschlags

Den Beginn jeder Konsent-Moderation markiert ein Vorschlag, der in einer gemeinsamen Diskussion gefunden, häufiger jedoch von einem „Vorschlag-Geber“ eingebracht wird. Dieser Vorschlag wird eingehend erläutert, d.h. es werden Hintergründe und Konsequenzen beleuchtet.

2. Informationsrunde und Verständnisfragen

Nachdem der Vorschlag eingebracht wurde, kann jede Person Verständnisfragen stellen. Dazu startet eine beliebige Person, die ihre Fragen im Dialog mit dem Vorschlag-Geber klärt. Es folgen nacheinander die anderen Personen im Kreis. Wichtig ist, dass hierbei wirklich nur Informationen eingeholt werden und noch nicht die eigene Meinung kundgetan wird.

3. Erste Meinungsrunde

Das passiert in der ersten Meinungsrunde. Auch hier wird bei einer beliebigen Person im Kreis gestartet, die dann ihre Zustimmung, Zweifel und Argumente zu dem Vorschlag in einem möglichst kurzen Statement äußern kann. Dies kann ganz frei geschehen, ohne dass dabei bereits ein prinzipielles Einverständnis mit dem Vorschlag geklärt werden müsste. Wichtig ist, dass keine Diskussionen mit anderen Mitgliedern des Kreises entstehen, sondern die Meinung der Person als solche stehenbleibt. Die Person spricht zur, aber nicht mit der Gruppe.

4. Zweite Meinungsrunde

Nachdem jede Person in der ersten Runde ihre Meinung zu dem Vorschlag geäußert hat, geht es in der zweiten Meinungsrunde darum, zu klären, ob sich die Meinung durch das Gehörte verändert hat. Es könnten ja bereits in der ersten Runde Aspekte geäußert werden, die bislang noch niemand anderes bedacht hat und die daher unbedingt beachtet werden müssen. Auch hier sollten Diskussionen zwischen einzelnen Teilnehmenden vermieden werden. Zur Not wird lieber eine dritte Meinungsrunde durchgeführt, als in Seitengespräche abzurutschen.

Info-Fragen, Vorschläge, Ideen, Bedenken und Einwände können während der Meinungsrunden zur Visualisierung und Ergebnissicherung auf einem Flipchart notiert werden.

5. Konsent (kein schwerwiegender Einwand) oder Integration der Einwände bzw. Neustart

Nach den Meinungsrunden wird in einer weiteren Blitzlicht-Runde die entscheidende Frage gestellt; „Hast du einen schwerwiegenden Einwand?“. Kommen keine schwerwiegenden Einwände auf, d.h. wird die Frage mit „Nein“ beantwortet, geben die Teilnehmenden damit ihren Konsent. Wird in den Meinungsrunden Widerspruch laut, kann die Moderatorin einen Gegenvorschlag aus der Gruppe aufnehmen oder einen modifizierten eigenen Vorschlag einbringen, der dann zur Abstimmung gestellt wird. Falls auch gegen diesen Vorschlag Einwände auftreten, startet der Prozess wieder mit der Informations- oder Meinungsrunde. So lange, bis eine Entscheidung steht, die für alle im Toleranz-Bereich liegt.

6. Ablaufdatum und Aufgaben festlegen

Zum Schluss wird ein Datum festgelegt, zu dem die Entscheidung wieder geprüft wird („Hat er sich bewährt, oder müssen wir nachjustieren?“). Das ist wichtig, denn die Aussicht auf einen späteren Zeitpunkt, an dem der umgesetzte Vorschlag bzw. die Entscheidung ggf. wieder revidiert wird, erleichtert es, sich auf eine Entscheidung einzulassen. Weiterhin bestehende Bedenken können ebenso wie die endgültige Entscheidung schriftlich festgehalten werden, um sie im Blick zu behalten.

Hier ist der Ablauf in einer schönen Grafik zusammengefasst.

Chancen und Grenzen

Bereits beim Input am Vormittag, aber auch in den Übungs-Phasen am Nachmittag wurde mir klar: Konsent-Moderation stellt sehr hohe Anforderungen – nicht nur an den Moderator, sondern vor allem an die Beteiligten. Es bedarf einer hohen Reflexionsfähigkeit, eines guten Gespürs für die eigenen Befindlichkeiten und eines hohen Verantwortungsbewusstseins, um wirklich abschätzen zu können, wie man zu einem bestimmten Vorschlag steht. Es braucht den passenden Kontext und das Commitment aller Beteiligten, damit die Prinzipien von Gleichwertigkeit und Partizipation nicht nur Absichtserklärungen bleiben, sondern auch wirklich umgesetzt werden. Und es bedarf einer guten Einführung und Übung, um die gewohnten Muster der Entscheidungsfindung zu durchbrechen und das soziokratische Rollenverständnis zu verinnerlichen.

Außerdem zu beachten ist, dass der Vorschlag an sich, der am Anfang jeder Konsent-Entscheidung steht, einen enormen Einfluss auf Verlauf und Richtung der darauffolgenden Diskussion nimmt. Der Vorschlag setzt den Ausgangspunkt und stellt die entscheidenden Weichen für die Entscheidungsfindung, auch wenn er angepasst und prinzipiell verworfen werden kann. Wenn als Vorschlag für ein Firmen-Logo ein Baum gewählt wird und dieser Vorschlag wirkmächtig in Szene gesetzt wird, dann ist es aus meiner Sicht wahrscheinlicher, dass über Form und Farbe der Blätter diskutiert wird, als dass mit einem Elefanten ein völlig anderes Motiv gewählt wird. Der Vorschlag sollte also immer sorgfältig vorbereitet werden und mit einer ethischen Selbstreflexion einhergehen, um einseitige Manipulationen auszuschließen.

Um Konsent als Entscheidungstechnik durchzuführen, muss man nicht zwangsweise das gesamte Unternehmen soziokratisch auf- oder umbauen. Prinzipiell eignet sich Konsent überall da, wo es um Grundsatz-Entscheidungen geht, die nach den beschriebenen Prinzipien gefällt werden sollen. Weniger geeignet, weil hier schlicht zu aufwendig, sind kleinere Entscheidungen im operativen Tagesgeschäft. Aber der Konsent bietet nicht nur die Möglichkeit, Entscheidungen auf die breitestmögliche Basis zu stellen. Er bietet auch die Chance, eine Kultur zu etablieren, bei der Verantwortung und Mitgestaltung Aller großgeschrieben werden. Insofern ist die Konsent-Moderation aus meiner Sicht ein sehr wertvolles Werkzeug im Koffer eines jeden Moderators und jeder partizipativ arbeitenden Organisation. In dem Maß, in dem sich Prinzipien kollegialer Führung weiter durchsetzen werden, wird sicherlich auch die Konsent-Moderation an Bedeutung gewinnen.

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Bisher 2 Kommentare:

  1. Petra noeding

    Hallo Oliver

    Ein sehr interessanter Artikel.
    Hat mir sehr gefallen.

    • Oliver König

      Hallo Petra, vielen Dank für Deine Rückmeldung! Ich leite die positive Rückmeldung an Silas weiter, er hat den Artikel verfasst.

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